Glyphosat: BI Landwende weist Bundesumweltministerin auf offene Fragen hin
17. März 2016
Zu viele offene Fragen bei Glyphosat: Das Vorsorgeprinzip verbietet die weitere Zulassung des Ackergifts!
In einem Interview im Nachrichten-Magazin DER SPIEGEL (Ausgabe 11/2016) sagte der Präsident des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR), Andreas Hensel, es sei »doch gut, wenn der Urintest zeigt, dass das Glyphosat unverändert durch den Körper geht, anstatt zu akkumulieren«, und weiter, Glyphosat werde seit über 40 Jahren in der Landwirtschaft eingesetzt, ohne dass es auch nur einen einzigen ernstzunehmenden Hinweis auf schädliche Nebenwirkungen gebe. Außerdem liege die tödliche Dosis von Glyphosat in der gleichen Dimension wie die von Kochsalz.
Wir empfinden diese Behauptungen des Chefs einer Behörde, die in besonderer Weise das Vorsorgeprinzip zu beachten hat, als äußerst fahrlässig und sahen uns veranlasst, der Bundesumweltministerin Barbara Hendricks sowie der Präsidentin des Bundesumweltamts zu schreiben. In unserem Brief bedanken wir uns für die bisher bewiesene Standhaftigkeit der Umweltministerin und der UBA-Präsidentin in ihrem Widerstand gegen die Verlängerung der Zulassung des Ackergifts Glyphosat. Wir üben an Herrn Hensels Aussagen Kritik und weisen auf offene Fragen hin, die sich aus der von uns am 4. März dieses Jahres in den Räumen der Heinrich Böll Stiftung Berlin vorgestellten epidemiologischen Feldstudie zur Glyphosatbelastung der deutschen Bevölkerung ergeben (Die Ergebnisse der Studie sind unter Punkt 6 zusammengefasst. Wir beziehen uns nur auf Deutschland; über die Situation in anderen Ländern, z.B, Frankreich, und Erdteilen, z.B. Südamerika, ist anderweitig ausreichend publiziert worden.):
1. Soll in der Bewertung von Glyphosat das Prinzip der Risikovorsorge missachtet werden?
Das Umweltbundesamt definiert: »Risikovorsorge bedeutet, bei unvollständigem oder unsicherem Wissen über Art, Ausmaß, Wahrscheinlichkeit sowie Kausalität von Umweltschäden und -gefahren vorbeugend zu handeln, um diese von vornherein zu vermeiden.«
Die Weltgesundheitsorganisation WHO hält Glyphosat für »wahrscheinlich krebserregend für den Menschen«, das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) und die europäische Lebens-mittelbehörde EFSA streiten dies ab. Das ist ein klassischer Fall, in dem das Prinzip der Risikovorsorge in Kraft treten müsste: Im Zweifel und »bei unsicherem Wissen« darf eine Substanz nicht zugelassen werden. Was, wenn nicht Zweifel und unsicheres Wissen, sollte der Grund für diese eklatante Uneinigkeit von internationalen Organisationen, in denen man die Versammlung höchster Fachkompetenz vermuten darf, sein?
2. Zählt der Verlust der Biodiversität im menschlichen Organismus durch Glyphosat nicht?
Der Erhalt der Biodiversität, auf den insbesondere die Bundesumweltministerin zu Recht größten Wert legt, bedeutet nicht nur den Schutz von Schmetterlingen und Fröschen auf dem Acker. Sie ist für den Erhalt der Gesundheit von Säugetieren, unter anderen des Menschen, unverzichtbar, da diese unmittelbar von der Homöostase der Mikroorganismen in deren Verdauungstrakten, auf den Schleimhäuten und der Haut generell abhängt. Unbestritten ist, dass Glyphosat antibakteriell auf Mikroorganismen mit Klasse I-EPSP-Synthase wirkt – unter anderem so ist der Wirkstoff patentiert. Darunter fallen die für die menschliche Gesundheit essenziellen Bakterien Lactobacillus, Enterococcus und Bifidobacterium. Einige der der Gesundheit abträglichen Bakterien, wie Salmonellen, Clostridien (zu denen auch das Clostridium botulinum gehört) und Fusarien, scheinen hingegen weniger empfindlich bis resistent auf Glyphosat zu reagieren. Das Vorhandensein von Glyphosat im Urin bedeutet somit, dass die Biodiversität im menschlichen Darm in dieser Hinsicht zumindest gefährdet ist, wenn nicht gar die mikrobielle Homöostase insgesamt zugunsten eines die Gesundheit schädigenden Ungleichgewichts verschoben wird. Dasselbe dürfte für die von Mikroben besiedelten Oberflächen des Körpers gelten.
3. Auf welchen Wegen gelangt Glyphosat in den Körper?
Bisher ist nicht nachgewiesen worden, auf welchen Wegen Glyphosat von den Bürgerinnen und Bürgern aufgenommen wird. Allgemein wird vermutet, das Ackergift gelange mit der Nahrungsaufnahme in den Körper. Doch wie lässt sich die relativ hohe Glyphosatbelastung der Menschen, die sich ökologisch ernähren und generell ein gesundheitsbewusstes Leben führen, erklären? Auf welchem Weg gelangt Glyphosat in die Körper von Säuglingen und Kleinkindern? Sind auch die Bio-Lebensmittel ähnlich hoch mit Glyphosat belastet wie die agroindustriell erzeugten?
Könnte die Verfrachtung des Wirkstoffs durch Verdunstung und Transport der Moleküle in der Atmosphäre dazu führen, dass Glyphosat überall eingeatmet wird? Immerhin soll die Toxizität des Wirkstoffs bei Inhalation erheblich höher liegen als bei oraler Aufnahme. Wie kommt es, dass die Urinwerte der getesteten Menschen keinen Hinweis darauf geben, ob sie auf dem Land oder in der Stadt leben?
Müssten diese Fragen nicht zuerst beantwortet sein, bevor über die weitere Zulassung von Glyphosat als Ackergift entschieden werden kann?
4. Was wissen wir über die Langzeitwirkung niedriger Dosen von Glyphosat?
Die Ausscheidung von Glyphosat im Urin ist kein einmaliger Vorgang. Aufnahme und Ausscheidung von Glyphosat finden vielmehr ständig statt – vermutlich ein Drittel der täglichen Ration des Ackergifts wird verstoffwechselt, während zwei Drittel der täglich aufgenommenen Menge durch den Darm wandert und dort fortdauernd seine bakterientötende Wirkung entfaltet.
Es ist bekannt, dass die ständige Aufnahme niedriger Dosen eines Gifts schleichend die Gesundheit stärker schädigen kann als die einmalige Aufnahme einer größeren Dosis. Gilt dies auch für die niedrigen Dosen an Glyphosat, die wir Bürgerinnen und Bürger täglich mit unserer Nahrung und möglicherweise durch die Atemluft aufnehmen? Was bedeutet dies vor allem für unsere Kinder, deren Urinproben gemäß unserer Feldstudie die höchsten Glyphosatwerte von allen Altersgruppen aufwiesen? Wenn Herr Hensel meint, die tödliche Dosis von Glyphosat liege in der gleichen Dimension wie die von Kochsalz, so sei der Hinweis erlaubt, dass die dauerhafte Aufnahme von weit unterhalb der letalen Dosis liegenden Kochsalzmengen zum Beispiel durch häufigen Fast-Food-Konsum erhebliche Gesundheitsprobleme verursachen kann. Laut Weltgesundheitsorganisation WHO gehört Salz zu den größten Gesundheitsgefahren überhaupt.
5. Wie steht es um die Freiheit der Entscheidung, von Glyphosat unbelastet zu bleiben?
Von Glyphosatbefürwortern wird immer wieder das Argument vorgebracht, Alkohol, rotes Fleisch etc. seien mindestens so gesundheitsschädigend wie Glyphosat. Es versteht sich zum einen von selbst, dass dieses Argument nicht als Freibrief dafür dienen kann, flächendeckend weitere Gifte in die Welt zu setzen. Zum anderen wird dabei die Tatsache übergangen, dass die Entscheidung, etwa Bier zu trinken oder eine Salami zu essen, im freien Willen der Bürgerinnen und Bürger begründet liegt. Wer sich mit diesen Giften nicht schädigen will, kann beides unterlassen. Bei der allgegenwärtigen Präsenz von Glyphosat ist eine freiwillige Entscheidung, das Gift aufzunehmen oder die Aufnahme zu unterlassen, unmöglich. Dies stellt eine grobe Missachtung des grundgesetzlich garantierten Schutzes der menschlichen Gesundheit dar: Der Staat muss sicherstellen, dass die körperliche Unversehrtheit der Bürgerinnen und Bürger durch Glyphosat – einen Giftstoff, über dessen Aufnahme in den Körper niemand frei entscheiden kann – nicht verletzt wird! Dies gilt freilich für eine Vielzahl anderer Giftstoffe, denen wir ebenfalls ungewollt ausgesetzt sind. Doch wenn – wie es bei Glyphosat der Fall ist – die Exposition durch einfaches Verbot vermieden werden kann und es einfache Alternativen gibt – z.B. ökologischer Landbau –, muss sie vermieden werden!
6. 99,6 Prozent der in der weltweit größten Feldstudie untersuchten Probandinnen und Probanden sind mit Glyphosat belastet!
Im Rahmen der zivilgesellschaftlichen Aktion »Urinale 2015« hat unsere Initiative in den Herbst- und Wintermonaten Oktober bis Januar über 11.000 Testsets an Bürgerinnen und Bürger ausgegeben, die ihren Urin auf Glyphosat-Rückstände untersuchen lassen wollten. Bis Ende Januar haben davon über 2000 Bürgerinnen und Bürger auf eigene Kosten ihren Urin analysieren lassen. Das kooperierende akkreditierte Labor BioCheck in Leipzig bot zwar den Test zum Selbstkostenpreis an, dieser betrug jedoch immerhin 53,55 Euro je Probe. Die Bürgerinnen und Bürger, die jeweils diesen Betrag aus freien Stücken bezahlt haben, dürften gewiss nicht Opfer von »unverantwortlicher Panikmache« sein, wie es unter anderen Herr Hensel jenen vorwirft, die die angebliche gesundheitliche Unbedenklichkeit des Wirkstoffs Glyphosat hinterfragen. Die Bürgerinnen und Bürger haben vielmehr selbst die Verantwortung für eine Vorsorgemaßnahme übernommen, die eigentlich Aufgabe der staatlichen Behörden ist und für die unter anderem auch unsere Steuermittel dienen sollten!
Das Ergebnis unserer Datenerhebung lautet: Unter den getesteten 2009 Urinproben lagen ganze 8 – also 0,4 Prozent – unterhalb der Nachweisgrenze des verwendeten (und validierten) ELISA-Testverfahrens. Im Urin von 99,6 Prozent der Probandinnen und Probanden ließ sich Glyphosat bis zum 42-Fachen des Höchstwerts für Pestizid-Rückstände in Trinkwasser nachweisen. Besonders auffällig: Der Urin von Kindern und Jugendlichen enthielt durchschnittlich fast doppelt so viel Glyphosat wie der Urin von Seniorinnen und Senioren, und der Urin von Menschen, die sich mit Biokost ernähren, war zwar weniger belastet als der von Menschen, die keine Präferenz für Biokost haben, doch fällt der Unterschied mit durchschnittlich 0,96 ng/ml bei den Bioessern zu 1,21 ng/ml bei Nicht-Bioessern wesentlich geringer aus, als man erwarten dürfte, und er ist neunmal höher als der Höchstwert an Pestizid-Rückständen, der für Trinkwasser zugelassen ist.
Auf Grundlage dieser offenen Fragen und der von uns publizierten Daten erwarten wir von der Bundesumweltministerin, dass sie sich mit aller Entschiedenheit gegen die Verlängerung der Zulassung des Ackergifts Glyphosat einsetzt!
Die Auswertung der weltweit größten Datenbasis zur Glyphosatbelastung der Bevölkerung kann von der Webseite www.urinale.org heruntergeladen werden.
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Ansprechpartner: Johannes Heimrath
Sprecher der Bürgerinitiative Landwende